15. Februar 2023

Wir sind eingebettet in einer unergründlich grossen Welt, und Teil davon. Für dieses Unfassbare, aber alles Umfassende, gibt es viele Bezeichnungen – das Namenlose, Tao, GOTT, der Grosse Geist,… –, die alle offensichtlich nichtssagend sind. Natürlich. Ich bezeichne diese grosse Welt als primäre Realität, oder einfach als die Welt, im Gegensatz zu meiner Welt.

Ich nehme einen winzigen Ausschnitt dieser primären Realität bewusst wahr. Einen Teil davon bezeichne ich als “zu mir gehörend” – mein Körper, meine Gefühle, meine Gedanken. Einen andern Teil verbinde ich mit “Umgebung” – die Katze neben mir, das Haus und die Berge da drüben, die Menschen, die strahlende Sonne, das ganze Universum und die komplizierte Erde von denen ich “weiss”.

Aus Wahrnehmungen und Wissen entsteht in mir ein Abbild der primären Realität, meine Vorstellung.

Die Vorstellung hat die Funktion einer Modell- oder Schattenwelt, da sie gleichsam die Vorgänge in der Welt nachbildet. Ich bezeichne sie daher auch als meine Welt. Sie ist meine Realität, in der mein Bewusstsein “lebt”. Tatsächlich kann mein Bewusstsein keinen Baum berühren, keine Rose riechen, kein Kind umarmen. Es kann nur die entsprechenden Handlungen auslösen und die resultierenden Wahrnehmungen feststellen und interpretieren, zusammen mit den Veränderungen in meinem Körper, meinen Emotionen, meinen aktiven Gedanken. Wissenschaftlich spricht man vom “verkörperten Geist”,1Varela, Thompson, and Rosch, 2016: The Embodied Mind – Cognitive Science and Human Experience, revised edition, MIT Press, Cambridge and London. der ein integraler Teil meines sich entwickelnden Wesens ist.

Oberflächlich setzen wir unsere Vorstellung oft mit der primären Realität gleich. Das ist sie aber nicht, bei weitem nicht.

Zum einen sind die in unserer Vorstellung repräsentierten Ausschnitte noch sehr viel kleiner als wir gewöhnlich vermuten, weil sie durch die Möglichkeiten unserer Sinne und Instrumente begrenzt sind.

Wichtiger aber:

All meine primären Wahrnehmungen werden im Kontext dessen, was ich bereits weiss, erkannt, zusammengefasst, und kategorisiert.

Gewöhnlich sind dies dann kurze Abfolgen von tokens (Symbolen, Wörtern, Bildern,…), die auf Aspekte meiner existierenden Vorstellung zeigen. Unergründlich tiefe Bereiche der primären Realität kollabieren damit in kurze Reihen von tokens, die auf Bereiche meiner Vorstellung zeigen, die am besten zu meinen Wahrnehmungen passen. Dies geschieht auch mit Wahrnehmungen von mir völlig fremden und damit nicht interpretierbaren Aspekten. All diese Zuordnungen entstehen weitestgehend unbewusst.

Noch Wichtiger:

Meine Vorstellung, meine Realität, ist grundsätzlich verschieden von der primären Realität. Sie gehören zu unterschiedlichen Kategorien.

Die primäre Realität, das ist Materie und Energie mit ihren Funktionen, darüber hinaus vielleicht auch noch zusätzliche Aspekte, die wir bisher nicht objektiv wahrnehmen können.2Materie und Bedeutung Meine Vorstellung dagegen, das sind Gedanken, Ideen, Erinnerungen…, jedenfalls abstrakte Konstrukte, die von meinem Geist erzeugt und verarbeitet werden. Diese Konstrukte sind zudem nicht einfach Spiegelbilder der jeweiligen Entitäten und Funktionen in der primären Realität, sondern es sind geschaffene Konstrukte, die Beobachtungen bestmöglich wiedergeben. So existiert eine Tasse Kaffee in der primären Realität nicht, nicht so wie ich sie mir vorstelle. Es existieren nur die verschiedenen, teils komplizierten Moleküle und Minerale aus denen Tasse und Kaffee bestehen und die Wechselwirkungen zwischen ihnen. Tatsächlich ist auch das so nicht richtig, denn die Moleküle und Minerale bestehen wiederum aus Atomen und ihren Wechselwirkungen, und auch darunter kennt die Physik noch zwei weitere Ebenen. Was schliesslich die “wahre” Natur der tiefsten Entitäten ist, das weiss niemand. Wir kennen nur ihre Manifestationen in unsern Beobachtungen und ihre abstrakten Repräsentationen in unserer Vorstellung.

Die Tatsache, dass in der primären Realität nichts so existiert, wie ich es mir vorstelle, heisst aber nicht, dass da nichts existiert – wie dies manche Philosophien sehen –, es heisst nur, dass es von einer andern Form ist.

Dass da etwas ist, auch wenn ich seine “wahre” Natur nicht erkenne, spüre ich spätestens, wenn ich mir schusselig brühend heissen Kaffee über das Bein kippe.

Über die Abgründe zwischen der primären Realität und meiner Vorstellung kann ich mich, wiederum oberflächlich, in vielen Bereichen einfach hinweg setzen. Schliesslich wissen wir alle, was zum Beispiel mit dem token “Haus” gemeint ist. Wir denken es zumindest. Bei genauerem Hinschauen öffnet sich nämlich schnell ein weites Feld von Bedeutungen, von Architektur bis “mein Heim”, von einem Ameisenhaufen bis zu einer Kathedrale, und noch viele mehr. Durch Hinzufügen einiger weiterer tokens können wir die Bedeutung aber recht schnell beliebig genau festlegen. So denken wir wieder oft. Die tiefere Schwierigkeit tritt aber wiederum rasch hervor, wenn ich etwa “mein Haus” und seine auch emotionale Bedeutung zu erfassen versuche, oder sie gar mitteilen möchte.

Diese Schwierigkeiten sind uns allen wohlbekannt, liegen sie doch vielen Miss- und Unverständnissen zugrunde. Sie öffnen damit auch die Tür für unsere ungeheuer komplizierte und vielschichtige Kommunikation, von Allegorien bis zu bewusstem Missverstehen.

Die Situation mit dem token “Haus” ist ziemlich einfach, denn es handelt sich um einen weitgehend unveränderlichen Aspekt der primären Realität. Zudem ist er hauptsächlich im berührbaren Bereich, ich kann ihn also mit meinen Sinnen und andern Instrumenten erfahren. Für zunehmend schwierigere Aspekte, wie sie etwa durch die token “Katze”, “Mensch”, “Leben”, “Liebe”, “Gott”,…, “Namenlos” anklingen, wird meine Vorstellung zunehmend dünn und schliesslich nutzlos. Das bemerke ich sofort, wenn ich vor jedes der token “Was ist” setze. Während ich über die einfacheren von ihnen noch recht schnell mit andern Menschen sprechen kann, kann ich über die schwierigeren noch nicht einmal mehr sinnvoll nachdenken.

Für die schwierigeren Aspekte, meist aus der unberührbaren Welt, sind die token – die Wörter, Bilder, Ideen,… – nur noch weitgehend leere Hülsen. Sie können ja nur auf meine bisherige Vorstellung zeigen und die schwierigeren Aspekte der primären Realität kann diese noch nicht einmal im Ansatz fassen.


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    Varela, Thompson, and Rosch, 2016: The Embodied Mind – Cognitive Science and Human Experience, revised edition, MIT Press, Cambridge and London.
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